Nach dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938 (Unterzeichner: Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich) annektiert Deutschland die "Sudeten-Gebiete"
, d.h. die mehrheitlich von Deutschsprachigen bewohnten Grenzgebiete der Tschechoslowakei.
Etwa 200.000 Menschen fliehen in den folgenden Monaten aus den annektierten Gebieten oder werden von den Deutschen vertrieben. Von früher über 27.000 Juden (Stand 1930) leben dort im Mai 1939 nur noch 2.363. Aus Wien werden im Oktober 1938 über 25.000 Juden tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit gewaltsam abgeschoben. Viele werden in das 'Niemandsland' längs der neuen Grenzen verjagt, wo sie wochenlang unter freiem Himmel kampieren müssen, weil zunächst niemand sie aufnehmen will.
Bericht des deutschen Generalkonsuls an das Auswärtige Amt:
Nachdem durch Verordnung des Senats vom 23. September die Tätigkeit jüdischer Ärzte verboten wurde, sei nun beabsichtigt, im Laufe des Oktobers "das Beamtengesetz sowie ein Gesetz zum Schutz der deutschen Rasse, über die schon früher Erwägungen geschwebt haben, in Form von Rechtsverordnungen einzuführen".
Der Kommissar des Völkerbunds, Burckhardt, habe Bedenken gegen den jetzigen Zeitpunkt vorgebracht. Die englische Regierung habe ihm wiederholt gesagt, "man möge doch mit solchen Gesetzen bis nach der Volkstagswahl (des Danziger Parlaments) warten; dann würden überhaupt keine Schwierigkeiten gemacht werden"
. (ADAP, Serie D, Bd. V, Nr. 670)
Alle Reisepässe deutscher Juden werden für ungültig erklärt. Die Inhaber dieser Pässe sind verpflichtet, sie der Paßbehörde innerhalb von zwei Wochen einzureichen, damit sie dort mit einem hineingestempelten großen roten "J"
versehen werden. Erst danach werden die Pässe wieder gültig. Für Juden, die sich im Ausland aufhalten, beginnt die Frist mit dem Tag ihrer Wiedereinreise nach Deutschland.
Die Kennzeichnung ist direktes Ergebnis der deutsch-schweizerischen Verhandlungen. (RGBl I, S. 1342)
Beginn des Abbruchs der Dortmunder Synagoge. Die Stadtverwaltung hatte die jüdische Gemeinde zum Verkauf genötigt, da die Synagoge gegenüber der Kreisleitung der NSDAP stand.
Juden werden aus der Reichsmusikkammer, dem letzten noch nicht vollständig "arisierten"
Bereich des Kulturschaffens, ausgeschlossen. Die Erteilung von Musikunterricht an jüdische Schüler wird untersagt. (Walk, S. 245)
Durch ein Dekret der polnischen Regierung - das erst am 15. Oktober offiziell veröffentlicht wird - verlieren die Pässe von Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland leben, zum 29. Oktober ihre Gültigkeit. Die deutsche Regierung droht, diese Juden abzuschieben, falls das Dekret nicht annulliert wird. Infolge der ergebnislos verlaufenden Auseinandersetzungen wird Ende Oktober die Abschiebung aller Juden polnischer Nationalität nach Polen angeordnet.
Der Faschistische Große Rat beschließt ein Paket antijüdischer Maßnahmen, dem der Ministerrat am 10. November 1938 weitgehend zustimmt. (Inhalt s. dort)
Die Botschaften werden aufgefordert, die im Ausland lebenden deutschen Juden, soweit sie ihnen bekannt sind, einzeln aufzufordern, sich innerhalb einer möglichst kurz bemessenen Frist bei ihnen mit ihren Reisepässen einzufinden - und diese dann mit dem "J"-Stempel zu versehen. Juden, die dieser Aufforderung nicht nachkommen, sollen in Listen erfaßt werden, die nach etwa einem Monat dem Ausw. Amt vorzulegen sind. (ADAP, Serie D, Bd. V, Nr. 644)
Nicht unterzeichneter Bericht für den Staatssekretär im Ausw. Amt:
Hitler habe in seinem Gespräch mit Außenminister Ribbentropp am 11. Oktober in Godesberg angeordnet: "Von dem zuständigen Ressort soll geprüft werden, ob eine Ausweisung der 27.000 Juden tschechischer Staatsangehörigkeit aus Wien möglich ist."
(ADAP, Serie D, Bd. IV, Nr. 53)
Göring teilt mit, daß Hitler ihn beauftragt habe, "ein gigantisches Programm durchzuführen, gegen das die bisherigen Leistungen bedeutungslos seien"
. Die Rüstung sei "abnorm zu steigern"
; die Luftwaffe schnellstens zu verfünffachen; das Heer müsse große Mengen von Angriffswaffen erhalten, vor allem schwere Artillerie und schwere Panzer.
Damit stehe die Wirtschaft vor großen Schwierigkeiten. Die Kassen seien leer, die Produktionskapazitäten für Jahre hinaus mit Aufträgen belegt. "Er werde die Wirtschaft mit brutalen Mitteln umdrehen, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Er werde von seiner, ihm von Hitler erteilten, Generalvollmacht "barbarischen Gebrauch machen"
. Alle Wünsche und Pläne von Staat, Partei oder anderen Stellen, die nicht ganz in dieser Linie liegen, sind rücksichtslos zurückzustellen. Er warne dringend, den Arbeitern Versprechungen zu machen, die nicht gehalten werden könnten.
Im zweiten Teil seiner Ausführungen kündigt Göring an, "die Judenfrage"
werde jetzt mit allen Mitteln angefaßt. Die Juden müßten ganz aus der Wirtschaft raus. Unter allen Umständen zu unterbinden sei aber die wilde Kommissar-Wirtschaft, wie sie sich in Österreich ausgebildet habe. Die Erledigung der Judenfrage dürfe nicht als Versorgungssystem untüchtiger Parteigenossen angesehen werden. Die "Arisierung"
sei allein Sache der Staatsorgane. Er könne aber Devisen für den Abschub der Juden nicht zur Verfügung stellen. Notfalls müsse man Ghettos in den Großstädten einrichten. (IMT, PS-1301)
Auf Anordnung des zuständigen Ministers werden an Juden keine Handelskonzessionen mehr erteilt; Juden dürfen künftig keine Geschäfte, Kaffees, Restaurants usw. mehr eröffnen. Außerdem werden Juden von allen Tätigkeiten an der Börse ausgeschlossen. (AdG, S. 3765)
Vom britischen Botschafter sei der Vorschlag an ihn herangetragen worden, der Direktor des Evian-Komitees, Rublee, und sein Mitarbeiter Pell sollten zu Verhandlungen über die Organisation der jüdischen Auswanderung nach Berlin eingeladen werden. Er habe das als zwecklos abgelehnt. "Es stehe ja nicht einmal fest, welche Länder bereit seien, deutsche Juden aufzunehmen. Das Comité habe sich bisher als steril erwiesen. Nun wolle es, um Seine Lebensfähigkeit darzutun, mit der Deutschen Regierung reden. In Deutschland würde dann festgestellt, daß wir - aus naheliegenden Gründen - den Juden keine Devisen mitgeben würden und damit wäre dann der Zweck erreicht, nämlich zu beweisen, daß wiederum deutsche Widerspenstigkeit das Judenelend verschulde. Nur um in Deutschland den Sündenbock zu finden, könne ich die Reise von Herrn Rublee nicht befürworten."
Der amerikanische Botschafter habe ihm danach das gleiche Anliegen vorgetragen und dabei betont, daß die Judenfrage "nolens volens ein wichtiger Faktor in den deutsch-amerikanischen Beziehungen sei. Amerika habe zur Aufnahme von Juden bekanntlich eine Jahresquote von 27.000 Menschen vorgesehen und sei also bereit, Juden aufzunehmen. Man hoffe in Washington doch zu einem ordnungsmäßigen Verfahren des Abtransports der Juden aus Deutschland zu gelangen und zwar sowohl im Interesse der Stimmung in Amerika wie auch im deutschen Interesse."
(ADAP, Serie D, Bd. V, Nr. 645)
Ein geschlossener Arbeitseinsatz der Juden, die aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden (Sozialhilfe, Arbeitslosengeld), ist in die Wege zu leiten. Es kommen dafür nur Arbeiten in Frage, bei denen die Juden mit anderen Volksgenossen nicht in Berührung kommen. (Walk, S. 246)
Der Leiter der Kriminalpolizei, Nebe, teilt dem Reichskriminalpolizeiamt den Auftrag Himmlers mit, daß "allen jüdischen Schutzhaftgefangenen, die zum Zwecke der Auswanderung aus der Schutzhaft entlassen werden, mündlich zu eröffnen ist, daß bei einer Rückkehr nach Deutschland sie selbst und ihre ganze Familie lebenslänglich in einem Konzentrationslager untergebracht würden. Aus diesem Grunde ist auch nach der Entlassung jüdischer Schutzhaftgefangener zum Zwecke der Auswanderung sowohl deren Auswanderung selbst als auch jede illegale Rückehr schärfstens zu überwachen."
(Adler, S. 7)
Memorandum des Legationsrats Schliep, Pol. Abt. des Auswärtigen Amtes:
Die Regierung der Freien Stadt Danzig plane, demnächst ein neues Beamtengesetz mit Arierbestimmungen und ein Gesetz zum Schutz der deutschen Rasse - analog zu den Nürnberger Gesetzen - zu erlassen. Die wenigen jüdischen Beamten in Danzig seien ohnehin schon im Lauf der letzten Jahre aus dem Dienst ausgeschieden, so daß das Beamtengesetz niemanden mehr direkt betreffen werde. Bei Erlaß des Gesetzes zum Schutz der deutschen Rasse sei mit polnischen Beschwerden zu rechnen wegen der zahlreichen in Danzig lebenden polnischen Staatsangehörigen jüdischer Abstammung sowie Juden anderer Staatsangehörigkeit, die sich der polnischen Minderheit angeschlossen haben.
Die Polit. Abt. sei nicht dafür, Bedenken gegen Erlaß des Beamtengesetzes geltend zu machen. "Im Hinblick darauf jedoch, daß auf das deutsch-polnische Verhältnis aus den bekannten Gründen Rücksichtnahme geboten ist, fragt es sich, ob es zweckmäßig ist, im gegenwärtigen Zeitpunkt das Gesetz zum Schutze der deutschen Rasse ergehen zu lassen, zumal, wie festgestellt wurde, die Danziger Verwaltung in der Lage ist, den Schutz der deutschen Rasse bis auf weiteres durch polizeiliche Maßnahmen zu sichern."
(ADAP, Serie D, Bd. V, Nr. 671)
Aus einem Bericht vom 25.10.38 geht hervor, daß Außenminister Ribbentrop von Hitler den Auftrag bekam, dem Danziger Gauleiter Forster die Zustimmung zur Einführung beider Gesetze mitzuteilen. (ADAP, Serie D, Bd. V, Nr. 672)
Hitler ordnet die militärische Vorbereitung der "Erledigung der Resttschechei"
und der Besetzung des zu Litauen gehörenden Memellandes an.
Bericht des Leiters der Polit. Abt. im Auswärtigen Amt, Woermann:
Der französische Botschaftsrat habe ihn heute aufgesucht und eine Note überreicht, mit der sich Frankreich ebenfalls dafür einsetzt, Rublee als Vertreter des Evian-Komitees zu Gesprächen in Berlin zu empfangen. (s. 18.10.38)
Der Botschaftsrat habe diesen Vorstoß mit dem "besonderen eigenen Interesse"
begründet, das Frankreich an der Regelung der Angelegenheit habe. "Frankreich sei sowohl das Durchgangsland wie das Endziel vieler Emigranten; außerdem seien die deutschen Behörden mehrfach dazu übergegangen, Emigranten einfach über die Grenze zu schieben. (...)
Frankreich könne diese Emigranten, wenn sie einmal auf französischem Gebiet seien, nicht in ihrer Gesamtheit ohne weiteres zurückschieben. Jedenfalls entstünden der Französischen Regierung durch diese Praxis erhebliche Kosten, da die Gemeinden oder der Staat für die Flüchtlinge einspringen müßten."
Er, Woermann, habe geantwortet, "daß wir uns von einer Reise des Herrn Rublee nicht viel versprechen könnten, da sie möglicherweise nur mit der Feststellung enden würde, daß wir für diesen Zweck keine Devisen hätten."
(ADAP, Serie D, Bd. V, Nr. 647)
Anweisung des Leiters der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt, Gaus:
Die Verordnung der polnischen Regierung vom 6. Oktober "würde unter Umständen bedeuten, daß Zehntausende von polnischen Juden, die sich im Reichsgebiet aufhalten, dauernd in Deutschland geduldet werden müßten. Die Deutsche Regierung kann einer solchen Entwicklung nicht tatenlos zusehen. Die in Deutschland befindlichen Juden polnischer Staatsangehörigkeit werden deshalb vorsorglich sofort mit kürzester Frist aus dem Reich verwiesen werden."
Das Auswärtige Amt ersucht die Sicherheitspolizei, die sofortige Ausweisung vorzubereiten. (Adler, S. 93)
Der auf der Konferenz von Evian (Juli 1938) ernannte Verhandlungsführer Rublee unterbreitet der deutschen Seite Seine Vorstellungen zur Lösung der Flüchtlingsfrage:
25 Prozent des gesamten Vermögens der deutschen Juden (1938 auf 6 Milliarden RM oder 2,4 Milliarden US-Dollar geschätzt; zum Zeitpunkt von Hitlers Regierungsbeginn waren es noch 10 Milliarden RM gewesen) sollen in einen eigens dafür in Deutschland einzurichtenden, treuhänderisch zu verwaltenden Fonds fließen. Juden außerhalb Deutschlands sollen die gleiche Summe in fremden Währungen aufbringen und sie den zukünftigen Emigranten nominell als Darlehen zur Deckung der Kosten für Ausreise und Neuansiedlung zur Verfügung stellen. Dieses Darlehen soll samt fälliger Zinsen durch Erlöse aus dem Verkauf deutscher Waren im Ausland zurückgezahlt werden. Die Auswanderer würden diese Waren mit Geldern aus dem Fonds erwerben, sie ins Ausland ausführen und dort verkaufen müssen. (Bauer, Freikauf, S. 56-57)
Zwischen 15.000 und 17.000 aus Polen stammende, in Deutschland lebende Juden werden festgenommen und zur Grenze transportiert. Die polnische Seite lehnt ihren Übertritt zunächst ab. In der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober werden etwa 12.000 Juden gewaltsam über die Grenze getrieben. Tausende müssen zunächst im 'Niemandsland' campieren, bis Polen schließlich nachgibt und sie aufnimmt. Die Abschiebungen werden am 29. Oktober eingestellt, nachdem es zu einer deutsch-polnischen Verständigung über die Aufnahme von Verhandlungen gekommen ist.
Juden dürfen generell nicht mehr als Patentanwälte tätig sein. Die wenigen Anwälte, die noch aufgrund von Ausnahmeregelungen in der beim Reichspatentamt geführten Liste eingetragen sind, werden mit Wirkung zum 30. November 1938 gestrichen. In anhängigen Verfahren kann die Vertretung noch bis zum 31. Dezember 1938 fortgesetzt werden. (RGBl I, S. 1545)