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9. November 1938 - Ein Pogrom wird inszeniert
9. November 1938
Ein Pogrom wird inszeniert
27.-29. Oktober 1938: 17.000 in Deutschland lebende Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit werden aus ihren Wohnungen geholt, zu Sammelstellen getrieben und schließlich über die polnische Grenze abgeschoben.
3. November 1938: Der bei Verwandten in Paris lebende, in Hannover geborene 17jährige Herschel Grynszpan erhält eine Postkarte von seiner Schwester, die ihm die Abschiebung seiner aus Polen stammenden Familie aus Deutschland schildert.
7. November 1938: Herschel Grynszpan erscheint bei der deutschen Botschaft in Paris und verlangt, einen leitenden Beamten zu sprechen, um ein wichtiges Dokument zu übergeben. Er schießt den Legationssekretär Ernst von Rath nieder, der ihn empfängt.
9. November 1938, spätabends: Nachdem von Rath am Nachmittag in Paris gestorben ist, beginnen von der NSDAP und ihren Nebenorganisationen, vor allem der SA, ausgehende Gewalttaten gegen die jüdische Bevölkerung. Sie dauern mit örtlichen Unterschieden bis zum Vormittag des 10. November. Dann werden sie durch eine offizielle Anordnung abgebrochen.
Mindestens 91 Juden, vermutlich mehr als 100, wurden im unmittelbaren Zusammenhang mit dem November-Pogrom ermordet, Hunderte zusammengeschlagen und teilweise schwer verletzt, 7.500 Geschäfte und 270 Synagogen, ebenso wie ungezählte Wohnungen wurden verwüstet und zerstört. 30.000 jüdische Männer und männliche Jugendliche wurden festgenommen und in Konzentrationslager gebracht.
Goebbels hatte gleich am Tag des Attentats, 7. November, die gesamte Presse angewiesen, die Nachricht in großer Aufmachung zu bringen und in Kommentaren "darauf hinzuweisen, daß das Attentat des Juden die schwersten Folgen für die Juden in Deutschland haben muß". Darauf hin hieß es am folgenden Tag, 8. November, beispielsweise im Leitartikel des "Völkischen Beobachters": "Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird. Es ist ein unmöglicher Zustand, daß in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als ,ausländische Hausbesitzer` das Geld deutscher Mieter einstecken."
Damit waren einige der nach dem 9. November offiziell verkündeten Maßnahmen zur weiteren Enteignung und Entrechtung der Juden schon angesprochen. Tatsächlich waren sie schon seit mehreren Monaten in Diskussion und Vorbereitung. Insbesondere waren mit den Verordnungen über die Anmeldung der jüdischen Vermögen (26.4.38) und über die Registrierung und Kennzeichnung jüdischer Gewerbebetriebe (14.6.38) die Grundlagen für eine vollständige "Erfassung" - und damit sowohl für Enteignungsmaßnahmen wie auch für die systematischen Zerstörungen in der Pogrom-Nacht - geschaffen worden.
Am 9. November hieß es im Leitartikel des "Völkischen Beobachters": "Da sich das Judentum der Welt selbst mit dem Verbrecher in Paris identifiziert, so ist es das Recht des deutschen Volkes, auch die Juden in Deutschland, gleichgültig, ob sie einen deutschen oder ausländischen Paß besitzen, mit diesen Verbrechern zu identifizieren. (...) Die Schüsse von Paris bleiben nicht ungesühnt, davon kann die Judenheit überzeugt sein!"
Trotz der unmißverständlichen Drohungen folgten zunächst außer dem Verbot der wenigen noch bestehenden jüdischen Zeitungen und der Vereinigung Jüdischer Kulturbünde keine praktischen Maßnahmen. Hitler, der am Abend des 8. November in einer der Münchner Bierhallen sprach, erwähnte in seiner Rede das Attentat von Paris nicht einmal. Offenbar wollte die NS-Führung vor ihren Entscheidungen zunächst die weitere Entwicklung des Falles Rath, d.h. des Zustands des Angeschossenen, abwarten.
Hitler hatte noch in der Nacht des 7. November zwei Mediziner zur Teilnahme an der Behandlung des Diplomaten nach Paris geschickt. Einer davon war Hitlers persönlicher Arzt Dr. Brandt, der später als Kriegsverbrecher zum Tod verurteilt wurde. Die beiden kamen frühmorgens am 8. November in Paris an. Nach ihrer ersten Visite bei von Rath bezeichneten sie dessen Zustand zwar als ernst - die Milz mußte entfernt werden, auch der Magen war verletzt -, doch bestehe noch "Hoffnung für den weiteren Verlauf". Am frühen Nachmittag des 8. November trat eine leichte Besserung ein, doch verschlechterte sich am Vormittag des 9. November der Zustand des Patienten sichtlich. Kurz vor 12 Uhr gab der behandelnde französische Chirurg die Hoffnung auf Rettung des Patienten auf. Gegen 15 Uhr fiel Rath ins Koma, und gegen 17 Uhr stellten die Ärzte seinen Tod fest.
Goebbels-Theater
Am Abend des 9. November 1938 findet im Münchner Rathaus die traditionelle Feier der "alten Kämpfer" zur Erinnerung an den nazistischen Putschversuch vom 9. November 1923, dem sogenannten Marsch auf die Feldherrnhalle, statt. Gegen 21 Uhr erscheint an Hitlers Tisch ein Bote, der offensichtlich etwas überraschendes und erschreckendes mitzuteilen hat. Hitler wirkt sehr erschüttert. Augenzeugen beobachten ein längeres "intensives" und "sehr eindringliches", aber leises Gespräch zwischen Hitler und Goebbels. Danach verläßt Hitler vorzeitig die Versammlung, ohne seine übliche Rede zu halten und ohne daß zunächst eine Erklärung für diesen plötzlichen Aufbruch gegeben wird.
Erst gegen 22 Uhr gibt Goebbels den Tod von Raths bekannt und hält eine aufhetzende Rede: In den Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt sei es bereits zu antijüdischen "Kundgebungen" gekommen, bei denen Geschäfte von Juden zertrümmert und Synagogen in Brand gesteckt worden seien. Hitler habe entschieden, "daß derartige Demonstrationen von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren seien; soweit sie spontan entstünden, sei ihnen aber auch nicht entgegenzutreten".
Diese Formulierung sei wohl, hieß es später in einem Untersuchungsbericht des NSDAP-Parteigerichts (Februar 1939), von sämtlichen anwesenden Funktionären "so verstanden worden, daß die Partei nach außen nicht als Urheber der Demonstration in Erscheinung treten, sie in Wirklichkeit aber organisieren und durchführen sollte". Offenbar habe Goebbels es auch genau so gemeint. Den aktiven Nationalsozialisten sei ja "aus der Kampfzeit" (d.h. vor 1933) "selbstverständlich, daß Aktionen, bei denen die Partei nicht als Organisator in Erscheinung treten will, nicht mit letzter Klarheit und in allen Einzelheiten befohlen werden".
In dem Untersuchungsbericht stand außerdem: Goebbels habe, als ihm gegen zwei Uhr morgens am 10. November die erste Tötung eines Juden gemeldet wurde, sinngemäß geantwortet: "Der Melder solle sich wegen eines toten Juden nicht aufregen; in den nächsten Tagen würden Tausende von Juden daran glauben müssen". Daraus schlußfolgerte das Parteigericht, "daß der schließliche Erfolg gewollt, mindestens aber als möglich und erwünscht in Rechnung gestellt wurde. Dann hat aber der einzelne Täter nicht nur den vermeintlichen, sondern den zwar unklar zum Ausdruck gebrachten, aber richtig erkannten Willen der Führung in die Tat umgesetzt."
Um eine strafrechtliche Behandlung der während des Pogroms begangenen Taten zu verhindern, hatte Göring das Parteigericht und die Gestapo mit allen Untersuchungen beauftragt. Die meisten Verfahren wurden eingestellt. Ein SA-Sturmführer bekam eine Verwarnung, weil er "entgegen gegebenem Befehl", wie in diesem besonderen Fall unterstellt wurde, ein jüdisches Ehepaar erschossen hatte. Nur einzelne SA-Leute, die Vergewaltigungen begangen hatten, wurden in Haft genommen - wegen "Rassenschande".
Zweifellos war der an Hitlers Tisch tretende Bote, der angeblich die Schreckensnachricht überbrachte, eine theatralische Inszenierung von Goebbels. Auch das kunstvolle Aufheizen der Spannung - erschütterte Gesichter am Führertisch, geheimnisvolles Getuschel, Aufbruch Hitlers ohne Erklärung, nochmalige Verzögerung bis zur Bekanntgabe des Todes von Raths und der Freigabe des Pogroms - entsprach ganz dem primitiven, aber stets wirkungsvollen Regiestil des Propagandaministers.
Von Rath war ungefähr vier Stunden vor Versammlungsbeginn gestorben, und aus dem Tagebuch von Goebbels wissen wir präzis, daß er die Todesnachricht bereits am Nachmittag erhalten hatte. Offensichtlich hatte er selbst daraufhin dafür gesorgt, daß die Meldung noch nicht durch den Rundfunk und die Abendzeitungen verbreitet worden war. Daß Hitler um 21 Uhr noch nicht Bescheid wußte, ist zwar möglich, aber unwahrscheinlich. Die Entsendung seiner beiden Ärzte nach Paris hatte sicher, neben anderem, auch die Funktion, ständig über die aktuelle Entwicklung auf dem Laufenden zu bleiben. Schließlich kam der Tod des Diplomaten nicht völlig überraschend, sondern war im Gegenteil vermutlich nur der Zeitpunkt, den Hitler und Goebbels abgewartet hatten, um mit der Umsetzung der angedrohten "Sühnemaßnahmen" gegen die Juden zu beginnen.
Das Ergebnis von Goebbels Ansprache war, daß die zahlreich anwesenden hochrangigen NS-Offiziere zu den nächsten verfügbaren Telefonen stürmten, um an die ihnen untergeordneten Dienststellen die Anweisung zum Pogrom weiterzugeben. Offenbar kam es dabei und im weiteren Verlauf der Befehlskette nach unten zu starken "Ausschmückungen", bis hin zu vereinzelten Meinungen, es sei wirklich die Tötung aller Juden befohlen worden.
Pogrom und November-Revolution
Daß von Rath gerade am 9. November, dem Jahrestag des Putschversuchs von 1923, starb, war aus Sicht der Regie ein sehr günstiger Umstand. An diesem Tag war von vornherein die gesamte Partei samt Nebenorganisationen überall im Reich in "feierlicher" Stimmung und leicht zu mobilisieren. Ein großer Teil der höheren Partei-, SA- und SS-Führer war zu den zweitägigen Feiern und Besprechungen in München versammelt und konnte sofort als Multiplikatoren angesprochen werden. Nur in einem solchen Rahmen konnte durch ein paar scheinbar spontan gesprochene Worte des Propagandaministers, ohne expliziten und eindeutigen Befehl, ein Pogrom in Gang gebracht werden. Es war im Grunde ein so phantastischer Rahmen, daß man an der Zufälligkeit des Datums zweifeln möchte.
Das Erstaunliche des Zufalls wird durch ein weiteres Moment noch gesteigert: Der Todestag von Raths war nicht nur der 15. Jahrestag des Münchner Putschversuchs, sondern zugleich der 20. Jahrestag des 9. November 1918. Dieses Datum hat in der NS-Ideologie eine zentrale Bedeutung: Es war der Tag, an dem der deutsche Kaiser abdankte und die Republik ausgerufen wurde. Aus deutschnationaler und nazistischer Sicht stand dieses Datum für den militärischen Zusammenbruch und für das verhaßte parlamentarisch-demokratische System. Für beides wurden neben der marxistischen Arbeiterbewegung in erster Linie "die Juden" verantwortlich gemacht. "Novemberverbrecher" war ein sehr beliebtes Schimpfwort der nationalsozialistischen Propaganda während der Weimarer Republik gewesen.
Mit dem Datum des 9. November verband sich von vornherein der Gedanke der Rache, wie es Hitler am 21. Januar 1939 beim Empfang des tschechoslowakischen Außenministers ausgesprochen haben soll: "Die Juden würden bei uns vernichtet. Den 9. November hätten die Juden nicht umsonst gemacht, dieser Tag würde gerächt werden." - Daß von Rath genau an diesem Tag starb, muß der NS-Führung so außerordentlich gelegen gekommen sein, daß man sich fragen muß, ob nicht etwas nachgeholfen wurde. Die Tatsache, daß Hitler zwei Ärzte nach Paris schickte, kann vielleicht auch unter diesem Gesichtspunkt interpretiert werden.
Juden als Faustpfand
Schon vor dem 9. November 1938 stand der Entschluß der NS-Führung fest, die Unterdrückung und Vertreibung der deutschen Juden zuzuspitzen. Das stand in engem Zusammenhang mit der Tatsache, daß für 1939 eine kriegerische Konfrontation geplant war, ohne daß allerdings schon definitiv feststand, gegen wen und in welchem Umfang. Die Annektion der sogenannten Sudetengebiete durch das Münchner Gipfeltreffen (Ende September 1938) war die letzte Eroberung, die Hitler noch auf dem Wege der Verhandlungsdiplomatie hatte machen wollen. Danach wurden in der Außenpolitik kaum noch taktische Rücksichten genommen, und auch in der Politik gegen die Juden fielen fast alle Hemmungen fort.
Sofort nach dem November-Pogrom begann man, offen von der Vernichtung der Juden im kommenden Krieg zu sprechen. Den Anfang machte Göring während einer Regierungskonferenz am 12. November 1938: "Wenn das Deutsche Reich in irgendeiner absehbaren Zeit in außenpolitischen Konflikt kommt, so ist es selbstverständlich, daß wir in allererster Linie daran denken werden, eine große Abrechnung zu vollziehen."
Das SS-Organ "Das Schwarze Korps" begründete in seiner Ausgabe vom 24. November 1938, warum man bisher einen - gemessen am eigenen Programm - relativ langwährenden, schrittweisen Gang der antijüdischen Politik habe wählen müssen: 1933 habe Deutschland noch die militärische Macht gefehlt, die es jetzt besitze; "damals wäre es den Juden vielleicht gelungen, die Völker in einen Rachekrieg gegen uns zu hetzen". Jetzt aber könne keine Macht der Welt Deutschland mehr daran hindern, "die Judenfrage nunmehr ihrer totalen Lösung zuzuführen". Das Ergebnis werde "das tatsächliche und endgültige Ende des Judentums in Deutschland, seine restlose Vernichtung" sein.
Unüberhörbar war schließlich Hitlers Ankündigung im Reichstag am 30. Januar 1939, dem sechsten Jahrestag seiner Ernennung zum Reichskanzler: "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa."
Hitler wiederholte diese Drohung während des Krieges noch mehrmals öffentlich, erstmals am 30. Januar 1941. Möglicherweise war damit die Absicht verbunden, die Juden in Deutschland und im deutschen Einflußbereich als Geiseln gegen ein Eingreifen der USA in den Krieg einzusetzen. Goebbels hatte schon am 25. Juli 1938 ins Tagebuch notiert: "Hauptsache ist, daß die Juden hinausgedrückt werden. In 10 Jahren müssen sie aus Deutschland entfernt sein. Aber vorläufig wollen wir die Juden noch als Faustpfand hierbehalten."
Knut Mellenthin
ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 419 / 22.10.1998