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1938: Deutschland schiebt ab
1938: Deutschland schiebt ab
Der Konflikt um die Juden polnischer Herkunft
Alle Jahre wieder ist der 9. November ein Anlaß für erbauliche Feierstunden, die vor allem der möglichst durch jüdische Zeugen abzusichernden Selbstbestätigung dienen, daß so etwas sich nicht wiederholen wird, weil das heutige Deutschland völlig anders ist als das damalige. Das ist natürlich wahr. Wer heute Synagogen anstecken möchte, muß es heimlich tun, und wenn er sich erwischen läßt, droht ihm ein Prozeß statt wohlwollendem Verständnis für seine gerechte Empörung.
Selten oder nie wird bei diesen Feierstunden davon gesprochen, daß unmittelbarer Auslöser des Novemberpogroms eine Massenabschiebung von Menschen war, die als "unerwünschte Ausländer" galten. Abgeschoben wird in Deutschland immer noch mit erschreckender moralischer Hemmungslosigkeit und unmenschlicher Gleichgültigkeit. Daß dabei keine Güterwaggons mehr benutzt werden und auch die Peitsche nicht mehr in Erscheinung tritt, sollten wir uns nicht als große humanitäre Errungenschaft zugute halten. Die Parallelen sind auch ohne dieses Zubehör beschämend genug.
Am 31. März 1938 gab die polnische Regierung den Erlaß eines Gesetzes bekannt, das die Möglichkeiten zur Ausbürgerung polnischer Staatsangehöriger, die im Ausland lebten, erweiterte. Insbesondere betraf das Personen, die während der letzten fünf Jahre keine Verbindung mit Polen mehr gehabt hatten, die also längerfristig oder sogar dauerhaft im Ausland lebten. Nicht zuletzt war dabei an die schätzungsweise 30.000 Juden polnischer Herkunft in Deutschland gedacht. Wohl die meisten aus der ersten Generation dieser Menschen lebten schon vor dem ersten Weltkrieg in Deutschland oder waren kurz danach zugewandert, teilweise aus früheren Ostgebieten des Reichs, die nach dem verlorenen Krieg Teil des polnischen Staates geworden waren. Die zweite Generation dieser "polnischen" Juden war bereits in Deutschland geboren worden. Freiwillig hätte unter normalen Umständen vermutlich kaum jemand von ihnen den Wunsch gehabt, seinen Wohnsitz nach Polen zu verlegen, und selbst angesichts des zunehmenden Drucks in Deutschland seit der Regierungsübernahme durch Hitler war Polen nicht gerade ein bevorzugtes Ziel.
Was war Zweck und Anlaß des Gesetzes? Bis Ende 1937 hatte nur etwa ein Fünftel der deutschen Juden, 120.000 von insgesamt rund 500.000 Menschen, das Reichsgebiet verlassen. Sie waren ungefähr zu gleichen Teilen nach Palästina, nach Übersee (vor allem USA) und in europäische Nachbarländer ausgewandert. Es gab aber Ende 1937/Anfang 1938 klare Anzeichen, daß die deutsche "Judenpolitik" erheblich verschärft und die Massenvertreibung ausgeweitet und beschleunigt werden sollte.
Ein wichtiges Warnsignal in diesem Sinn war Himmlers Anordnung vom 5. Januar 1938, alle Juden sowjetischer Staatsangehörigkeit (mit Ausnahme der Inhaber von Diplomatenpässen) innerhalb von zehn Tagen aus Deutschland auszuweisen. Wer der Aufforderung zur Ausreise nicht "freiwillig" nachkam, sollte abgeschoben werden - möglichst mit Einverständnis der UdSSR, anderenfalls aber auch einfach irgendwo "über die grüne Grenze". Mitte Februar verlängerte Himmler die Frist auf bis zu sechs Wochen, und Anfang Mai 1938 ordnete er eine nochmalige Verlängerung an.
Die deutsche Regierung hatte es also zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht ganz eilig, und die angedrohte Abschiebung betraf auch nur eine kleine Zahl von Menschen. Polen hatte aber allen Grund, das deutsche Vorgehen gegen die jüdischen Sowjetbürger als Einstieg und Probe für Maßnahmen gegen die größte Gruppe "ausländischer" Juden in Deutschland, eben die "polnischen" Juden, zu verstehen. Nun war aber auch in Polen das gesellschaftliche Klima vom Antisemitismus geprägt, und die polnische Regierung war bereits seit einiger Zeit selbst bemüht, im Ausland Verständnis und Unterstützung für ihren Wunsch nach "Entlastung" von einem Teil ihrer jüdischen "Überbevölkerung" (insgesamt etwa 3,3 Millionen) zu finden.
Konkurrenz der Antisemiten
Weitere Konkurrenten auf dem weitgehend blockierten "Markt" für jüdische Auswanderer bzw. Flüchtlinge und Vertriebene waren Ungarn und Rumänien mit zusammen rund 1,5 Millionen jüdischer Einwohner. Im Januar 1938 hatte die Ende Dezember 1937 gebildete rumänische Regierung unter dem Antisemiten Goga ein Gesetz über die Überprüfung der Staatsbürgerschaft bekannt gegeben, das auch dort eine erhebliche Verschärfung der judenfeindlichen Politik signalisierte. Im Ergebnis lief es darauf hinaus, daß ungefähr 250.000 rumänische Juden ihre Staatsbürgerschaft verlieren würden und damit voraussehbar über kurz oder lang zu Freiwild für Massenabschiebungen werden würden. Auch wenn Goga bereits im Februar 1938 vom König wieder abgesetzt wurde, blieb die Vertreibung als Damoklesschwert. Anfang Oktober wurde ein Erlaß veröffentlicht, der die Betroffenen verpflichtete, ihre Aufenthaltsgenehmigung vierteljährlich neu zu beantragen.
Im ungarischen Parlament wurde seit Anfang 1938 gleichfalls über antijüdische Maßnahmen diskutiert, die Anfang Mai als Gesetz beschlossen wurden. Sie sahen Höchstquoten für Juden in praktisch allen akademischen Berufen und darüber hinaus vor. Anders als in Deutschland verlor zwar dadurch niemand seinen Arbeitsplatz, aber die Zulassung neuer jüdischer Bewerber für diese Berufe sollte blockiert sein, solange die Quote überschritten war.
Zum Hintergrund des polnisches Gesetzes vom 31. März 1938 gehörte schließlich auch der "Anschluß" Österreichs, den Deutschland Mitte März durchgesetzt hatte. Dadurch kamen mit einem Schlag 190.000 weitere jüdische Menschen unter nationalsozialistische Herrschaft, und schon aus den allerersten deutschen Maßnahmen wurde deutlich, daß man deren Entrechtung und Vertreibung von vornherein sehr viel systematischer und schneller angehen würde als bisher im Reichsgebiet praktiziert. Streicher triumphierte im "Stürmer" (12/38): "Wir gehen herrlichen Zeiten entgegen, einem Großdeutschland ohne Juden".
Die deutsche Regierung hatte das polnische Gesetz zwar sofort kritisiert und eine Rücknahme-Zusage der Warschauer Regierung für alle "polnischen" Juden gefordert, aber den Konflikt zunächst nicht zugespitzt. Er wurde erst Anfang Oktober 1938 wieder akut.
Für die Zwischenzeit sind weitere Vorgänge zu erwähnen, die die sich drastisch verschlechternde internationale Situation der Juden kennzeichnen.
Im Juni 1938 wurde den in Deutschland lebenden Juden mit rumänischer Staatsangehörigkeit die Aufenthaltserlaubnis teilweise entzogen oder beschränkt. Vor allem ging es um die Drohung, die Betroffenen künftig bei den geringsten Verstößen gegen gesetzliche Bestimmungen, wie etwa gegen das Melderecht, auszuweisen und abzuschieben.
Anfang September beschloß der italienische Ministerrat, alle Juden, die sich nach dem Stichtag 1. Januar 1919 in Italien oder seinen Kolonialgebieten niedergelassen hatten, zu Ausländern zu erklären. Mit gewissen Ausnahmen (beispielsweise für Kriegsteilnehmer und "verdiente" Faschisten samt Familienangehörigen) waren sie verpflichtet, innerhalb von sechs Monaten das Land zu verlassen; anderenfalls drohte ihnen die Ausweisung.
Es zeigte sich später, daß die italienischen Behörden diesen Erlaß kaum in die Praxis umsetzten. Dennoch verschärfte er zunächst einmal das internationale Klima zu Ungunsten der Juden und wurde deutscherseits als Bestätigung und Ermutigung aufgefaßt.
Das große rote "J"
Wichtig für die weitere Entwicklung war vor allem der Konflikt Deutschlands mit der Schweizer Regierung. Am 24. Juni 1938 teilte die Schweiz mit, daß für alle Reisenden aus Österreich der Visumzwang eingeführt sei, "um die Schweiz vor dem ungeheuren Zustrom von Juden aus Wien zu sichern". Diese Maßnahme brachte aber nicht die gewünschte Wirkung, weil die deutschen Stellen vielen betroffenen Juden neue Reisepässe ausstellten, aus denen ihre österreichische Herkunft nicht mehr hervorging. Selbst vor direkter Unterstützung der illegalen Einreise von Juden in die Schweiz schreckten die deutschen Stellen zum Ärger der Schweizer Behörden nicht zurück.
Anfang August teilte die Schweiz deshalb auf diplomatischem Weg mit, daß sie weitergehende Maßnahmen erwäge, darunter an erster Stelle die Einführung eines allgemeinen Visumzwangs für alle Reichsdeutschen. Mit dem deutschen Versprechen, die Einreise von Juden aus Österreich in die Schweiz künftig zu verhindern, wollte man sich nicht mehr zufrieden geben.
Am 31. August teilte die Schweizer Regierung ihre Absicht mit, das Paß- und Visumabkommen mit Deutschland zu kündigen. Gleichzeitig gab der Schweizer Polizeichef Rothmund dem deutschen Gesandten aber am 2. September zu verstehen, daß man den Visumzwang auf deutsche Juden beschränken könnte, sofern aus den Pässen klar ersichtlich wäre, ob die betreffenden deutschen Staatsangehörigen Juden sind.
Verhandlungen, die vom 27. bis 29. September in Berlin stattfanden, führten zum gewünschten Ergebnis: Deutschland sagte zu, alle Pässe reichsdeutscher Juden möglichst schnell mit einem entsprechenden Kennzeichen zu versehen. Um dies durchzuführen, wurden am 5. Oktober alle Reisepässe deutscher Juden für ungültig erklärt. Sie mußten innerhalb von zwei Wochen bei der Paßbehörde eingereicht werden, um durch Hineinstempeln eines großen roten "J" wieder gültig zu werden. Selbstverständlich war das ein Schritt, der der deutschen Seite auch ohne den Schweizer Druck äußerst zweckmäßig erschien.
An diesem Punkt kam nun wieder die polnische Regierung ins Spiel: Am 6. Oktober, einen Tag nach Bekanntgabe der deutschen Maßnahme, erließ sie ein Dekret, wonach die Pässe der im Ausland lebenden polnischen Staatsangehörigen nur noch in Verbindung mit einem konsularischen Prüfungsvermerk, also praktisch einem Visum, zur Einreise nach Polen berechtigen sollten. Dieser Vermerk sei insbesondere denjenigen zu verweigern, auf die das Gesetz vom 31. März 1938 sich bezog, also den seit Jahren im Ausland lebenden Personen und ihren Nachkommen. Stichtag für das Inkrafttreten dieser Regelung war der 29. Oktober.
Zur Begründung erklärte die polnische Regierung später, sie wolle vermeiden, "daß größere Mengen von Besitzern polnischer Pässe, die durch die Anordnungen der Deutschen Regierung ihres Vermögens verlustig gegangen und in einen Zustand völliger Proletarisierung gebracht worden sind, massenweise nach Polen zurückkehren".
Als diese Maßnahme mit Verzögerung am 15. Oktober bekannt gegeben wurde, antwortete die deutsche Seite mit der Drohung, alle "polnischen" Juden abzuschieben, falls das Dekret nicht umgehend annulliert würde. Am 26. Oktober wiederholten die deutschen Vertreter ihre Forderung in ultimativer Form. Nach der polnischen Ablehnung am folgenden Tag lief sofort die schon vorbereitete Maschinerie der ersten großen Deportation an. Himmler verfügte gegen alle "polnischen" Juden ein Aufenthaltsverbot, verbunden mit der Aufforderung, Deutschland bis spätestens am 29. Oktober zu verlassen.
Tatsächlich ließ man den Betroffenen nicht einmal einen minimalen zeitlichen Spielraum, dieser Aufforderung selbst nachzukommen. Gleichzeitig mit der formalen Zustellung des Aufenthaltsverbots wurden sie in "Abschiebehaft" genommen und in Sammeltransporte getrieben. Insbesondere war man bemüht, die männlichen Juden möglichst vollständig bei dieser Aktion zu "erfassen", da man davon ausging, daß ihren Angehörigen anschließend sowieso nichts anderen übrigen bleiben würde, als ihnen nachzufolgen. In vielen Fällen wurden aber auch ganze Familien in die Züge getrieben.
Vertreibung ins "Niemandsland"
Nach offiziellen Angaben wurden am 28. und 29. Oktober rund 17.000 jüdische Menschen an die Grenze geschafft, von denen 12.000 abgeschoben wurden. Teilweise waren die polnischen Behörden im ersten Moment so überrumpelt, daß sie die Einreise zuließen. Später war das aber nicht mehr der Fall, und die Deutschen jagten Tausende von Deportierten bei spätherbstlichen Temperaturen und Witterungsverhältnissen einfach ins "Niemandsland", wo sie mit primitivsten Hilfsmitteln campieren mußten - bis schließlich die polnische Seite sich erbarmte und sie aufnahm.
Der erste Reflex der polnischen Regierung war, sich für das deutsche Vorgehen zu rächen. Sie gab deshalb Anweisung, eine gleiche Zahl deutscher Staatsangehöriger aus den früheren Ostgebieten des Reichs auszuweisen. Zur Vorbereitung wurden vielen von ihnen die Pässe abgenommen, einige kamen gleich in "Abschiebehaft". Polen entschied sich dann aber, den Konflikt mit dem mächtigen Nachbarn nicht weiter zuzuspitzen. Es wurden also Verhandlungen aufgenommen, zunächst mit dem Ergebnis, daß die Deutschen die Deportationen erst einmal abstoppten und einen Teil der noch an der Grenze Stehenden in ihre Wohnungen zurückkehren ließen.
Am 24. Januar 1939 wurde eine deutsch-polnische Vereinbarung geschlossen. Sie lief einerseits darauf hinaus, daß Polen die Familienangehörigen der im Oktober 1938 Abgeschobenen - etwa 5-6000 Menschen - aufnehmen würde. Sie gestattete es andererseits den Abgeschobenen, befristet noch einmal nach Deutschland zurückzukehren, um ihre Angelegenheiten zu regeln, ihren Besitz zu verkaufen usw. Die Frage, was mit dem Erlös aus solchen Verkäufen geschehen sollte, wurde allerdings nicht abschließend geklärt. In der Vereinbarung war die Rede von der Einrichtung besonderer Konten bei einer deutschen Devisenbank, über deren weitere Behandlung sich die beiden Staaten später noch verständigen sollten.
Ungeklärt blieb auch, was mit den übrigen etwa 7-8000 noch in Deutschland lebenden "polnischen" Juden geschehen sollte. Polen wollte sich zu deren Übernahme nicht verpflichten. Heydrich gab daraufhin am 8. Mai 1939 Anweisung, "ihre Abschiebung nach Polen unter Anwendung polizeilicher Zwangsmittel vorzunehmen". Das sollte aber nicht wieder durch eine Massendeportation gemacht werden, sondern in weniger auffälligen Formen. "Es muß erreicht werden, daß bis zum 31. Juli 1939 die erwähnten polnischen Juden das Reich verlassen haben oder zum Vollzug der Abschiebungshaft in ein Konzentrationslager eingewiesen worden sind. (...) Die Grenzpolizeibehörden (...) werden angewiesen, mit allen polizeilichen Mitteln die Abschiebung (...) über die grüne Grenze nach Polen zu erzwingen."
Aus einer Anweisung von Gestapochef Best vom 8. Juli 1939 geht hervor, daß die polnische Seite sich gegen dieses Vorgehen der Deutschen schließlich durch eine verschärfte Grenzüberwachung zur Wehr setzte. Heydrichs Anweisung vom 8. Mai wurde deshalb dahingehend abgeändert, zwar möglichst alle bereits ins Grenzgebiet geschafften Juden bis Ende des Monats über die "grüne Grenze" auf polnisches Gebiet zu jagen, aber weitere Deportationen nur noch dann vorzunehmen, "wenn eine Mitteilung einer Grenzpolizeidienststelle vorliegt, daß die Abschiebung in ihrem Grenzabschnitt möglich ist".
Erst der deutsche Überfall auf Polen, der am frühen Morgen des 1. September 1939 begann, beendete das deutsch-polnische Tauziehen um die entrechteten, beiderseits "unerwünschten" Juden. Von nun an waren sie nur noch der Willkür der Deutschen ausgeliefert.
Knut Mellenthin
ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 419 / 22.10.1998